Predigt am 21.10.2018 von Pfarrer Quandt zu:
Gnade sei mit euch und Friede von dem der da ist und der da war und der da kommt, AMEN
Jer.29, 1. 4-7, 10-14
Liebe Gemeinde,
kein Thema beschäftigt die Politik in unserem Land und die Weltpolitik derzeit mehr als die Fragen von Flucht und Asyl, von Migration und Integration. Die ganze Welt scheint in Bewegung geraten zu sein. Auf der einen Seite die, die sich in Massen auf den Weg machen, um dem Elend, in dem sie Leben zu entkommen- und da macht es keinen Unterschied, ob sie einem Bürgerkrieg entfliehen oder dem Hunger oder der gewaltsamen Unterdrückung- und auf der anderen Seite die, die sich dem Ansturm der Elenden zur Wehr setzen, mit allen Mitteln.
Diese Auseinandersetzung um Erhalt und Teilhabe am Lebensnotwendigen droht inzwischen die Gesellschaften in Europa und anderen Teilen der der Welt zu zerreißen. Sie bedroht den Weltfrieden. In unserem Land schwinden lange bestehende Gewissheiten über den Zusammenhalt der Gesellschaft. Der demokratische Konsens und die B ru de kraft der demokratischen Parteien schwinden. Es scheinen unsicher Zeiten anzubrechen. Macht es Sinn in einer solchen Situation auf einen 2600 Jahre alten Text zu hören, in der Hoffnung, Orientierung und Wege aus der Krise zu finden?
Worum geht es in diesem Text? Da ist die Rede davon, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen, die zwangsweise deportiert worden sind, an dem neuen Ort der Zwangsdeportation sich den dortigen Verhältnissen anpassen sollen: baut Häuser, wohnt darin, pflanzt Gärten, esst deren Früchte, heiratet, zeugt Töchter und Söhne, also vermehrt euch und lasst eure Töchter und Söhne das Gleiche tun. Alles in Allem: suchet der Stadt Bestes. Wem wird das zugemutet? Es ist, wie das Schreiben des Propheten Jeremia es mitteilt, die Oberschicht des judäischen Reiches mit der Hauptstadt Jerusalem, ein König und eine Königin Mutter, der Hofstaat, Priester, Propheten, Handwerker und etliche Andere. Das Ganze hat einen historischen Hintergrund. Im Jahr 597 v. Chr. eroberte der babylonische König Nebukadnezar Jerusalem und zerstörte es weitgehend. Die Siegerbeute waren die zwangsweise Exilierten, gewissermaßen ein brain drain für die babylonische Gesellschaft, zugleich damit die Zerschlagung der judäischen Herrschaftsstrukturen und die Gelegenheit einen hörigen Versallen einzusetzen. Wer konnte es denen, die dagegen ihren Willen aus ihrer Heimat und damit aus allen vertrauten Lebensbeziehungen gerissen waren, verdenken, dass sie nur ein Gedanke beherrschte: wann ist das hier vorbei? Wann können wir endlich wieder nach Hause? Gerne hörten sie auf alle Stimmen, die ihnen einreden wollten, es komme nicht so schlimm, das sei bald alles vorbei, falsche Propheten aber. Dagegen wendet sich dieser Brief des Jeremia. Er stellt klar: Das ist kein vorübergehendes Ereignis. Es ist genau das, als was es erlebt wird, eine Katastrophe, die erst einmal ausgehalten, erlitten und durchlebt werden muss. Übrigens keine nur fremdverschuldete, sondern eine weithin selbstverschuldete. Die Konsequenz heißt darum: lebt nun nicht, als ob ihr auf gepackten Koffern säßet, sondern integriert euch. Leichter gesagt als getan in der damaligen Situation. Sie waren ja nicht als Freiwillige ins Land geholt und mit Privilegien ausgestattet worden, sondern sie mussten Zwangsarbeit verrichten. Wie mühsam und entbehrungsreich musste es gewesen sein, unter diesen Umständen ein normales Leben zu führen. Also dass, was da von Jemandem gefordert wird, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, sondern eine Zumutung.
Tatsächlich scheint es dem Propheten Jeremia mit diesem Schreiben sogar um mehr zu gehen, als nur darum, den Durchhaltewillen zu stärken. So könnte sein Schreiben ja durchaus so verstanden werden: passt euch äußerlich an, seht zu, dass ihr beieinander bleibt – denn die Aufforderung sich zu vermehren war nicht die Aufforderung: mischt euch mit den Babyloniern - geht in die innere Emigration. Aber hier spricht der Prophet davon: suchet der Stadt Bestes, genauer: suchet den Schalom der Stadt, betet für sie. Wenn sie Schalom hat, habt ihr auch Schalom. Eine solche Botschaft ist nicht auf Vorläufigkeit, auf Vorbehalt angelegt. Schalom ist mehr als nur schwerlich friedliches Miteinander oder gar Nebeneinander. Schalom ist umfassender, gelingender Lebensvollzug: persönliches Glück, soziale Gerechtigkeit, gleichberechtigtes Miteinander.
Die Botschaft des Jeremia ist in der Tat eine Vision. Denn sie fordert nicht nur die eigene Gruppe, die Weggefährten, wie es hier heißt, die Exilanten. Sie fordert auch die babylonische Gesellschaft. Lasst es zu, das die, die ihr zwangsweise geholt und ausgebeutet und rechtlos behandelt habt, zu Mitbürgern werden, mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet. Dann werdet ihr von ihnen profitieren können, weil sie eure Möglichkeiten, in Glück und Frieden und Wohlstand zu leben, erweitern werden. Idealer Weise: eine win-win Situation. Leider sieht die Realität immer wieder anders aus. Aber bedeutet das, dass es falsch ist, immer wieder in Erinnerung zu rufen: Friede und Gerechtigkeit sind keine Illusion, sondern eine immer währende Aufgabe. ?
Das es Jeremia nicht darum geht mit seiner Aufforderung, sich auf Babylon einzulassen, die Brücken der eigenen Herkunft ein für alle mal abzubrechen, zeigen die letzten Verse des Predigttextes. Babylon ist nicht das Ende und das Exil des Volkes Gottes, bzw. des Weges, den Gott mit seinem Volk geht. Die Zukunft des Weges Gottes mit seinem Volk weist über die Babylons dieser Welt hinaus.
Babylon hatte sich nach 70 Jahren erledigt. So war es tatsächlich. Aber der eigentliche Weg über Babylon hinaus war nicht die Rückkehr nach Jerusalem. Das war ein eher kümmerlicher Sieg über Babylon: zerrüttete, zerstörte Verhältnisse, mühsame Aufbauarbeit, scheitern illusionärer Hoffnungen und Erwartungen.
Wenn Jeremia hier davon schreibt, das Gottes Verheißung ist, sein Volk wieder an diesen Ort, also an den Ort, wo man einst heimisch war, zurückzubringen, dann ist mit Jerusalem als Ort nicht nur das vorfindliche Jerusalem gemeint, sondern ein Jerusalem des Friedens und nicht des Leidens, ein Sehnsuchtsort an dem Gott sich finden lässt, wenn nach ihm mit ganzem Herzen gesucht wird.
Dieses Jerusalem, das ich das himmlische nennen möchte, von dem auch die Offenbarung des Johannes spricht, ist der Ort, an dem das Volk Gottes wieder zu sich selbst findet, befreit von allen Irrtümern und Irrwegen in der eigenen Geschichte.
Was können wir für und heute aus dieser Geschichte lernen? Das eine ist: es gibt einen unbedingten, unbezwingbaren Willen eines jeden Menschen, aller Menschen, zu wissen: Woher komme ich? Und Wohin gehöre ich? An welchem Ort bin ich mir selbst nicht fremd und ist mir die Welt nicht fremd, wie es der Philosoph Ernst Bloch ausgedrückt hat? Der Glaube Israels und mit ihm der Glaube der christlichen Kirche antwortet auf diese Frage: bei Gott. Die Frage nach der eigenen Verantwortung, oder anders gesagt nach der eigenen Identität findet ihre Antwort für den Glauben an Gott. Wir haben hier keine bleibende Stadt. Wir suchen das himmlische Jerusalem. Das sind Bilder dafür, dass wir nicht fixiert sind auf Orte, die Jerusalem, Babylon, Rom, Deutschland in den Grenzen von…. u.s.w. heißen.
Das andere ist: Die Vorläufigkeit unseres Daseins, auch die Frage: woher komme ich? Wo gehöre ich hin? ist kein Grund zur Hoffnungslosigkeit. Mag die vorfindliche Wirklichkeit auch voller Unsicherheit und Risiken sein, wie damals zu Zeiten des Jeremia. Das ist kein Grund zur Resignation und zur Aufgabe. Heißt heute: Die Probleme von Flucht und Asyl, von Migration und Integration sind nicht unüberwindbar. Allerdings nicht mit den Mitteln der alten Politik, einer Politik der Nebukadnezars und ihrer Versallen: Unterdrückung, Gewalt, Ausbeutung. Gefragt ist nach einer Politik, die sich der Suche nach dem Schalom verpflichtet weiß. Eine Politik, die die Verschiedenheit der menschlichen Herkunft als Reichtum versteht und nicht als Bedrohung, eine Politik, die sich nicht an Rückwärts gewandten Vorstellungen einer vermeintlich besseren Vergangenheit orientiert, sondern eine Politik, die sich öffnet für eine neue Weltgesellschaft, in der alle Menschen ihrer Herkunft und Bestimmung gemäß leben können. Eine solche Politik, die nicht allein die Sache von professionellen Politikern sein kann, sondern eine Sache Aller sein muss, wäre eine visionäre, aber keine illusionäre Politik. Eine solche Politik wäre nie am Ziel, immer unterwegs, bliebe zwangsläufig vorläufig, damit auch demütig und uneigennützig. Ihr Ziel wäre nicht Machtabsicherung und Vorteilsgewinnung, sondern der Schalom Gottes.
Ich möchte schließen mit einem Wort von Christa Wolf aus dem Buch: „Kein Ort: Nirgends“: „Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt“. Amen
Abgeschrieben von Marita Leßny